Zu Gast bei: SC Jülich 1910/97 – FC 06 Rurdorf // Karl-Knipprath-Stadion // Kreisliga A, Kreis Düren // ca. 300 Zuschauer // Endstand: 1:1
Wer einmal in Jülich war, der wird sich an drei Dinge sicherlich erinnern. An die Zitadelle, den Brückenkopfpark und den Hexenturm. Wer in Jülich war, weiß, dass es eine freundliche, in helle Farben gekleidete Kleinstadt am Niederrhein ist. Nur eines werden wohl die wenigsten sagen: Jülich ist eine absolute Fußballstadt. Dabei könnte man das mit Blick auf die Vergangenheit zu Recht behaupten. Denn der SC Jülich 10 setzte sich von 1969 bis 1971 drei Mal in Folge die Krone des deutschen Amateurmeisters auf. Damals war die ganze Stadt auf den Beinen. Auch später noch war Jülich 10 Stammgast in den dritten und vierten Ligen. Im DFB-Pokal begrüßten die Jülicher im heimischen Karl-Knipprath-Stadion (ehemals Rurstadion) deutsche Fußballgrößen, wie Werder Bremen, Hertha BSC Berlin und den Nachbarn von Borussia Mönchengladbach. Fußballfeste waren in Jülich einige Jahrzehnte lang an der Tagesordnung.
Dann aber brachen Zeiten des Unheils über den Verein herein. 1997 musste der „große“ SC Jülich 1910 sogar aus dem Vereinsregister gestrichen werden. Es stellte sich heraus, dass der damalige Hauptsponsor seine Zuwendungen an den Verein nur durch Unterschlagungen leisten konnte. Der Verein wurde als SC Jülich 1910/97 neu gegründet. Aber 2008 stand auch der Nachfolger kurz vor dem Aus. Über 100.000 Euro Schulden sollen es gewesen sein, die den Verein ins Insolvenzverfahren getrieben haben.
Sollte der Verein eine dritte Chance bekommen? Oder soll man den chronisch kranken Patienten sterben lassen. In Jülich herrschte Uneinigkeit. Schlussendlich erklärte sich ein 10-köpfiges Kompetenzteam, bestehend aus Persönlichkeiten des Jülicher Stadtlebens, bereit, den beinahe leblosen Verein zu reanimieren.
An der Spitze dieses Teams steht mit dem Vereinsvorsitzenden Michael Lingnau eine schillernde Figur. Der 57-jährige Rechtsanwalt engagiert sich in diversen Vereinen ehrenamtlich und ist wohl aus dem Stadtleben nicht wegzudenken. Er hat es mit dem Kompetenzteam geschafft, den SC Jülich 1910 vor der Insolvenz zu bewahren. Lingnau ist eine große Erscheinung mit offener und einladender Gestik. Er wirkt hemdsärmelig, steht selber in der Würstchenbude und hilft beim Verkauf. Ein echter Anpacker eben. Ich treffe ihn zum Interview am Rande des Saisonauftaktes des SC Jülich 10 in der Kreisliga A.
Ich kannte Jülich bisher nur wegen der Zitadelle und des Brückenkopfparks. Sollte mir Jülich auch als Fußballstadt im Gedächtnis bleiben?
Die älteren Generationen kennen natürlich den SC Jülich 1910 und die Stadt in einer Symbiose deutschlandweit, weil wir drei Mal in Folge deutscher Amateurmeister geworden sind. Das ist eine Krone, die sich kein anderer Verein mehr aufsetzen kann, weil es diesen Titel ja nicht mehr gibt. Wir hätten ja fast die vierte Meisterschaft auch noch errungen und sind dann knapp im Halbfinale gescheitert. Das hat dazu geführt, dass in Jülich und Umgebung und auch darüber hinaus die Stadt sehr stark verbunden ist mit Fußball.
Was ist davon heute noch zu spüren?
Man lebt vom Ruhm nicht alleine. Trotzdem spielt Fußball in Jülich weiterhin eine große Rolle. Wir haben ja auch ne große Jugendabteilung. Wir haben jedes Jahr das Jugendcamp mit über 150 Kindern und Jugendlichen. Das ist stadtbekannt. Also: Die Stadt Jülich und der Fußball stehen in einer engen Verbindung.
Sind die Erfolge und die Geschichte dann heute eher eine Last?
Das ist Fluch und Segen zugleich. Segen, weil man ja immer auf die Erfolge verweisen kann und damit auch Menschen motiviert, diesem Verein wieder zugehörig sein zu wollen. Und Fluch, weil die Erwartungen immer noch sehr hoch gespannt sind. Das hat ja auch dazu geführt, dass der Verein nach diesen zwei Amateurmeisterschaften zwei Mal wirtschaftlich ruiniert war. Weil man eben zu hoch hinaus wollte. Und als wir mit dem Kompetenzteam die Geschicke übernommen haben, war von Anfang an unser Leitsatz: „Habt Geduld mit Jülich 10“. Und wir haben das Tränental durchwandert: Von der Kreisklasse C jetzt hoch bis in die Kreisliga A. Und wir sehen auch heute immer wieder, wie schwer es ist, Erwartungen zu erfüllen. Damit müssen wir leben. Aber ich glaube, wir können es hinkriegen, dass der Verein wieder da spielt, wo er hingehört. Nämlich mindestens in die Bezirksliga.
Bezirksliga klingt ja ein bisschen tief gestapelt, angesichts der schillernden Vergangenheit…
…Sie haben das kleine Wörtchen „mindestens“ überhört. Wenn wir das wirtschaftlich hinbekommen, vor allem noch Sponsoren gewinnen können, dann werden wir auch über die Bezirksliga hinaus Leistungen bringen, die in andere Ligen hineinragen.
Das klingt trotzdem noch Alles sehr zurückhaltend. Steht hinter Ihrem Engagement eine Vision?
Auf jeden Fall. Die Vision ist von vorneherein gegeben. Wir vom Kompetenzteam wären ja nicht so bekloppt gewesen, wenn wir keine Vorstellungen hätten. Die Vision geht natürlich weit über die Bezirksliga hinaus. Wenn wir nen Milliardär finden, wie anderswo, dann wären wir auch in anderen Ligen gut aufgehoben. Dann müssten wir unser kleines, beschauliches Stadion auch mal wieder aufrichten. Das ist ja die Voraussetzung für Alles. Grundsätzlich heißt das für uns noch lange nicht, dass wir beim Ziel Bezirksliga bleiben wollen.
Was ist für Sie der persönlich der größte Tag der Vereinsgeschichte?
Als wir den Beschluss des Insolvenzgerichts bekamen 2012, dass der Verein wirtschaftlich wieder auf sanierten Füßen steht. Ich bin hier in die Krisenzeit reingekommen als Vorsitzender. Wir haben den Verein 2008 übernommen. Wir wurden damals gefragt: Soll der Verein weiterleben oder nicht? Und wir waren nicht alle schon vorher mit dem Verein verbunden. Viele kamen aus dem gesellschaftlichen Leben der Stadt Jülich kamen. Und wir haben damals gesagt: Wir retten den Verein. Der ist so wichtig, wie die Zitadelle und der Hexenturm. Das sind Wahrzeichen von Jülich und Jülich 10 ist eben auch ein Wahrzeichen. Also muss das grade stehen. Und das haben wir auch wieder aufgestellt.
Welche Erinnerungen haben Sie denn als Fan von Jülich 10?
Ich bin ja hier in Jülich aufgewachsen. Ich kann mich als Kind erinnern. Da war ich etwa 10 Jahre, als die erste Amateurmeisterschaft errungen wurde. Da war Jülich im Aufbruch. Die ganze Stadt war auf den Beinen. Da ging ein Autokorso durch die ganze Stadt. Da kann ich mich sehr gut dran erinnern, aber die Dimension habe ich damals noch nicht begriffen. Also, dass Jülich eine Meisterschaft gewonnen hat und dann in der Folge noch zwei Weitere. Und ich sage Ihnen: Wir würden heute gerne wieder Menschen zu einem Autokorso auf die Straße holen. Aber da müsste es wohl noch einige Ligen weiter hoch gehen.
Welche Bilder gehen Ihnen von damals noch durch den Kopf?
Ich erinnere mich an eines dieser Meisterschaftendspiele. Da war das Stadion wirklich rappelvoll. Das hatte schon fast Bundesliga-Atmosphäre. Und das betraf die ganze Stadt. Massen von Menschen pilgern zu nem Fußballspiel. Das waren tolle Bilder
Was machen die Protagonisten von damals heute? Sind die dem Verein noch treu?
Ja. Einer meiner Stellvertreter ist der Peter Kosprd. Der ist in Jülich nicht nur als Spieler, sondern auch als Trainer bekannt. Der ist selber Amateurmeister geworden. Der bringt im Vorstand seine große Erfahrung mit ein. Es gehören noch ne ganze Reihe weiterer Spieler dazu. Die feiern alle zwei Jahre ihr Zusammentreffen hier in Jülich. Wenn die dann zusammenkommen, ist das auch für uns Jüngere ein ganz wesentliches Ereignis, weil man dann diese Vergangenheit personifiziert wieder vor Augen geführt bekommt. Und diese Leute sind sehr interessiert am Verein. Die hatten zum Teil auch schon Abstand genommen, weil der Verein zwei Mal so schlimm abgestürzt ist. Aber die kommen Alle so nach und nach wieder. Und das ist einfach toll.
Was kann man denn von denen lernen?
Man kann von denen lernen, dass man nie zu schnell zu hoch hinaus sollte. Dass wir Amateurspieler hier vor Ort haben und keine Profis. Und dass die Ansprüche sich immer im Rahmen halten sollten. Da gibt es in den Amateurligen teilweise überzogene Ansprüche. Und gerade, wenn der Name Jülich 10 fällt, dann denkt man immer an den roten Teppich, der uns ausgelegt wurde. Der Teppich war aber zwischendurch nicht mehr rot, sondern gewissermaßen befleckt und staubig. Das muss man wissen und deshalb ist Bescheidenheit angesagt. Aber trotzdem gilt auch das Leistungsprinzip. Wir wollen ja nun Meister werden diese Saison. Das heißt auf der einen Seite in die Bezirksliga aufsteigen. Auf der anderen Seite aber auch: Schuster bleib bei deinen Leisten. Wir wollen uns nicht daran überheben.
Immerhin: Das Stadion ließe ja schonmal höherklassigen Fußball zu. Sieht man den vorm geistigen Auge schon, wenn man in die Anlage blickt?
Wir haben ja hier vor einigen Jahren den hundertsten Vereinsgeburtstag gefeiert. Das haben wir etwas verspätet gefeiert und zwar 2012, weil wir 2010 ja noch mitten in der Insolvenz standen. Da war uns noch nicht nach Feier zumute. Da haben wir ja ein großes Benefizspiel gemacht gegen Fortuna Düsseldorf. Da waren die noch Erstligisten. Da hatten wir hier 5.000 Zuschauer. Da merkt man, dass dieses Stadion mit Zusatztribünen bis zu 10.000 Zuschauer fassen kann. Wenn man alte Filme aus dem DFB-Pokal anschaut, dann sieht man, dass hinter den Toren noch Tribünen aufgestellt waren. Natürlich pulsiert da ne Vorstellung, dass wir wieder mehr Zuschauer locken wollen. Wenn man sieht, dass wir heute ein ganz normales Kreisliga-A-Spiel hatten, dann sind wir mit den 300 Zuschauern auch schon ganz gut bedient. Wir backen noch kleine Brötchen. Aber: Es baut sich auf. Noch vor zwei, drei Jahren waren wir froh, dass wie 40-50 Zuschauer hatten.
Thema Geld: Steht denn ein gewisser finanzieller Druck hinter dem Aufstiegsunternehmen?So ein Fußballverein ist in kleines Wirtschaftsunternehmen. Aber schon mit nem Umsatz, der sich sehen lassen kann. Und Sie wissen ja wahrscheinlich auch, dass man im Ehrenamt bei solchen Vereinen hohe Verantwortungen hat, vor allem auch Haftungsverntwortung. Das ist ja erstaunlich, wenn man das mal vergleicht mit kleinen GmbHs. Da gibt es eben beschränkte Haftungen. Wenn man sich in einem Verein engagiert, dann steht man voll in der Haftung. Wenn man sich dann die Zahlen anschaut, die sind hochgradig fünfstellig schon bei Kreisliga-A-Vereinen. Und dann sieht man auch seine Verantwortung. Und da müssen wir als Vorstand auch über die Trainer versuchen, den Spielern Bescheidenheit zu vermitteln. Denn was ich am meisten hasse – und das vertrete ich auch immer wieder hier im Verein – das sind die Legionäre. Die, die von Verein zu Verein ziehen und immer da Halt machen wo sie gerade das meiste Geld abkassieren können. Und wir haben es nach einigen Jahren der Aufbauarbeit geschafft, dass wir jetzt einen Kader haben, der mit einer gewissen sozialen Kompetenz unterwegs ist. Da sind dann auch Spieler mal bereit, sich noch als Trainer im Jugendbereich zu engagieren. Oder einfach bei Vereinsveranstaltungen mit anzupacken. Die wollen also nicht einfach nur aufm Platz stehen und ihre Prämie abkassieren. Da freuen sie sich sicher auch drüber. Aber das sollte nicht die einzige Antriebsfeder sein. Sie sollten sich auch mit dem Verein identifizieren.
Wo sehen wir Jülich 10 in fünf Jahren?
Mit großer Wahrscheinlichkeit in der Bezirksliga. Aber: So lange ich die Verantwortung tragen darf, werde ich weiterhin diesen Satz wie ne Monstranz vor mir hertragen: “Habt Geduld mit Jülich 10.” Es darf nicht zwei Schritte vorwärts gehen und drei zurück. Ich glaube, der ganze Verein muss mitziehen. Es darf nicht sein, dass die Mannschaft voran eilt und der Verein hinterher hinkt. Das muss eine einheitliche Entwicklung sein. Wir denken in der Dimension Bezirksliga, aber auch darüber hinaus.
Links:
Historisches Video vom Spiel des SC Jülich 1910 beim VfL Köln
Als Alemannia Aachen fast mal ins Karl-Knipprath-Stadion eingezogen wäre…
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