SalzArena, SV Kali Unterbreizbach – VfB 1919 Vacha 09 4:0, 18.09.2020
🗓 69/2020
🏟 496
👨👩👧👦 300
⚽️ Kreisoberliga Westthüringen
PODCAST FUNKHAUS HABEDURST
“SPERRZONEN-DERBY”
Der SV Kali Unterbreizbach ist kein normaler Dorfverein, wie es ihn tausendfach in Deutschland gibt. Allein durch die Lage des Ortes ergeben sich viele Besonderheiten, deren Auswirkungen auf den Fußball Gotthilf sich unbedingt anschauen musste. Und er wurde nicht enttäuscht.
Freitagabend, Derbyzeit. Der SV Kali Unterbreizbach empfängt den Verein aus der Nachbarstadt Vacha. Gotthilf nennt es einfach mal „Das Sperrzonen-Derby“. Denn beide Vereine lagen zu Zeiten der deutschen Teilung unmittelbar am Todesstreifen, an der so unüberwindbaren Grenze zwischen Kapitalismus und Sozialismus, an der Grenze zwischen BRD und DDR. Das Spiel lockt die Massen an. 300 Zuschauer für ein Kreisoberligaspiel an einem Freitagabend um 18 Uhr, das ist beeindruckend und zeigt ein Stück weit, wie sehr die Menschen mit ihren lokalen Fußballvereinen mitgehen. Drei von ihnen sind Dirk Gimpel, Hans Lübbert und Wolfgang Lock. Alle drei sind bzw. waren im Kalibergbau in Unterbreizbach beschäftigt und sind dem SV Kali Unterbreizbach in verschiedenen Funktionen (u.a. Spieler und Trainer) seit vielen Jahren treu. Sie bringen dem erstaunten Gotthilf die Welt des Fußballs im Werra-Kalirevier näher.
Unterbreizbach ist eine Bergbaugemeinde und das merkt man an jedem Zipfel des Ortes. Der Monte Kali – die Abraumhalde des Kalibergbaus, ist so gewaltig groß, dass er die ganze Gemeinde je nach Sonnenstand in den Schatten stellt. Der Schlot des Kaliwerkes ist von überall her deutlich sichtbar. Der riesige Förderturm rattert munter vor sich hin. Immer wieder fahren Güterzüge mit Kaliladungen über die hoch über dem Spielfeld gelegene Bahnstrecke.
Der Bergbau prägt aber nicht nur das Bild, sondern auch die Menschen in der Region. Wer nicht selbst beim Kalibetrieb arbeitet, kennt zumindest Jemanden oder hat einen Verwandten im Betrieb. Egal ob über Tage oder unter Tage. Das betrifft natürlich auch den Fußball. „Wir sind ein echter Kumpelverein“, sagt Dirk Gimpel.
Der Kalibergbau hatte auch direkt spürbare Auswirkungen auf den Fußball. Vor allem vor der Wende. „Die Anlagen hier im Betrieb wurde mit Kohlenstaub befeuert. Und wenn der Wind günstig stand, dann wurde der Nebel hier ins Tal und auf das Fußballfeld gedrückt. Da haben manche einen Husten und schwarze Nasenlöcher bekommen.“ Vor allem die Gegner aus dem Thüringer Wald, die reine Luft gewohnt waren, hatten mit diesen Bedingungen so ihre Probleme.
Vor der Wende war der Kalibetrieb natürlich auch offiziell die Triebfeder des Unterbreizbacher Fußballs. Denn als „ BSG Aktivist Unterbreizbach“ war der Fußball dem Schacht direkt als Betriebssportgemeinschaft zugeordnet. Ende der fünfziger Jahre und Anfang der Sechziger Jahre blühte der Unterbreizbacher Fußball. Einige Jahre konnten die Kali-Mannen in der damals drittklassigen Bezirksliga Suhl mithalten. Höhepunkt war das Spiel im FDGB-Pokal 1960 gegen die eine Liga höher spielenden Fußballer von Dynamo Erfurt, das aber mit 2:4 verloren ging. Besondere Fußballfeste waren ansonsten die Derbys gegen Traktor Sünna, oder aber auch ein Bezirksligaspiel gegen die BSG Stahl Bad Salzungen, das nach Augenzugenberichten rund 1.200 Menschen ins Unterbreizbacher Stadion lockte.
Der zwar lokale und doch zeitweise glänzende Stern der BSG Aktivist Unterbreizbach ging etwas unter, als die Kaliwerke im Revier an der Werra zu einem Kalikombinat zusammengeschlossen wurden. Der nun große und die ganze Region erstreckende Betrieb überlegte sich nun offenbar, den Spitzenfußball im Revier auf einen Standort zu konzentrieren. Und das sollte die BSG Aktivist Kali Werra Tiefenort sein. „Wer hier bei uns überm Durchschnitt spielte, den hat die Betriebsleitung nach Tiefenort geschickt, um dort höherklassigen Fußball sicherzustellen“, erinnert sich Hans Lübbert.
Es klingt etwas paradox, aber nutzen konnte dem Unterbreizbacher Fußball die Lage in der Sperrzone. Unterbreizbach liegt unmittelbar am Todesstreifen und damit auch mittendrin in dem 5 Kilometer breiten Streifen entlang der Grenze, die DDR-Bürger aus dem Landesinneren nur mit einem Passierschein betreten durften. Das bedeutete auch für Fußballmannschaften, die in Unterbreizbach zu Spielen zu Gast waren: Die Kaderlisten wurden vor dem Spiel von der Staatsmacht kontrolliert. Und wer schon einmal in irgendeiner Form systemkritisch und „staatszersetzend“ auffiel, oder einfach nur als „unzuverlässig“ galt, der durfte als Spieler nicht mit seiner Mannschaft nach Unterbreizbach in die Sperrzone einreisen. „Das konnte natürlich helfen, wenn dann eine Mannschaft wichtige Spieler nicht mit zu uns hinein nehmen durften.“, erinnert sich Wolfgang Lock. Die Gästeteams durften überdies auch nur geschlossen im Mannschaftsbus anreisen. Private Anreisen waren tabu.
Die Grenze war natürlich in Unterbreizbach omnipräsent. In der Gemeinde waren Grenztruppen stationiert. Nur wenige hundert Meter hinter dem Ortsausgang endete für die Einwohner die Welt. „Man musste hier auch aufpassen was man sagt. Es gab hier den Fall, dass ein Mann in einer Kneipe saß, sich betrunken hat und schließlich aufgestanden ist und gesagt hat: Ich hau jetzt ab“, erinnert sich Hans Lübbert. Dieses „Ich hau ab“ hat wohl ein Stasi-Spitzel falsch verstanden und sofort die Grenztruppen alarmiert, die umgehend die Grenze bei Unterbreizbach absuchte. Der vermeintliche Republikflüchtling indes lag seelenruhig in seinem Bett und schlief seinen Rausch aus.
Solche Geschichten hatten ihr wohlbekanntes Ende in den Wendejahren um 1989. „Am Abend als die Mauer fiel, hatten wir eine Faschingsveranstaltung im Dorf. Mit einem Mal hat man gemerkt, wie der Saal immer leerer wurde“, erinnert sich Dirk Gimpel an die Nacht der Nächte. Viele sind damals über die Brücke der Einheit ins hessische Philippsthal gelaufen. Ein überwältigender Abend, wie Gotthilfs Gesprächspartner sagen.
Der Fall der Mauer hatte für die BSG Aktivist Unterbreizbach zunächst negative Folgen. Zwar ist die Sportgemeinschaft zur Wende nochmal in die drittklassige Bezirksliga aufgestiegen, doch mit dem Mauerfall verließen viele Spieler den Verein über die nahe gelegene Grenze nach Hessen. Dort schlossen sie sich Vereinen im Landkreis Fulda und Hersfeld-Rotenburg an. Dennoch nutzte der Verein auch die Chance, um im neuen bundesdeutschen Fußbalsystem anzukommen. „Wir haben eine Jugendspielgemeinschaft mit der hessischen Nachbargemeinde Philippsthal gegründet. Das war die erste grenzübergreifende Fußball-Kooperation. Und mit der A-Jugend sind wir sogar Hessenmeister geworden. Außerdem konnten wir von den Philippsthalern lernen, wie der Fußball in der BRD funktioniert. Das war eine gute Sache“, sagt Wolfgang Lock.
Heute spielt die BSG Aktivist Unterbreizbach als SV Kali Unterbreizbach in der Kreisoberliga Westthüringen. Dass der Verein lebendig ist, merkt man nicht nur an dem hohen Zuschauerinteresse im Derby gegen Vacha. Auch die Organisation rund um den Spieltag scheint -von vielen Ehrenamtlichen getragen – gut zu funktionieren. Kleine Besonderheit: Die Ansprachen im Stadion wurden seltenerweise von einer Frauenstimme getätigt. Der SV Kali scheint also keine reine Männerangelegenheit zu sein. Auch insgesamt ergibt sich das Bild von einer Kumpelgemeinde mit einem riesigen Zusammenhalt. Mit dieser Erkenntnis und den vielen spannenden Geschichten beladen, konnte Gotthilf frohen Mutes den Heimweg antreten. Achja und das Sperrzonenderby ging deutlich mit 4:0 an die Kalikumpel aus Unterbreizbach.
Ein echter Geheimtipp sei an dieser Stelle gegeben für alle, die sich durch den Bericht inspiriert fühlen, nach Unterbreizbach zum Fußball zu fahren. Vor dem Spiel lohnt ein Besuch in der Gaststätte “Zur Erholung”. Die Gaststätte ist nur einen Steinwurf vom Stadion entfernt und der Fan-Treffpunkt vor den Spielen. Dort gibt es leckere, hausgemachte Speisen und das von Gotthilf so geliebte Bier von den Mönchen auf dem Kreuzberg in der Rhön. Das Ganze stilecht im originalen Tonkrug. Besonders fiel Gotthilf die Freundlichkeit und Offenheit der Unterbreizbacher dort auf: Jeder der in den Biergarten reinkam oder rausging, kam zunächst an Gotthilfs Tisch, um mit den Fingern darauf zu klopfen und eine freundliche Begrüßung auszusprechen. Man tritt Ortsfremden gegenüber in Unterbreizbach sehr offen auf. Das behält Gotthilf in bester Erinnerung.
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